Johanneskirche in Löbau

         Der Drewenzbote !

      Heimatbrief des Kreises Neumark/Westpreußen 
       und seiner Stadt- und Amtsbezirke



 Nr. 117   Dezember  2010
 

             Löbau/Westpr.(Lubawa)
  Neumark/Westpr. (Nowe Miasto   Lubawskie)
 

Redaktion: Prof. Stephan Freiger, 

Hannelore Freiger und Superintendent Rudolf Steege


 

Liebe Landsleute!

Es ist eine Freude, Sie von dem Beschluß unseres Vorstands und Beirates, im kommenden Jahr wieder eine Fahrt in die alte Heimat anzubieten, in Kenntnis zu setzen.  

Termin: 30. Juli bis 13. August 2011.

Wir werden mit einem gecharterten Bus – geplant wird alles selber –

ab Kassel gen Görlitz – kurz Breslau – Krakau – Görzberg (Gorzno) bei Strasburg – Danzig – Stettin – Kassel fahren und natürlich auch anderes sehen. Z.B. können wir während unseres Aufenthalts in Görzberg – 5 Nächte beherbergt uns das malerisch am See gelegene Hotel „Alte Mühle (Dworek Wapionka)“ – weitere Orte in unserem Heimatkreis besuchen, wir können uns einen Tag für den Oberlandkanal reservieren, wir können, so wir wollen,  Masuren unsere Aufwartung machen.

Gewiß werden wir auf mindestens einem Friedhof unseres Heimatkreises einen Gedenkstein errichten lassen und feierlich einweihen. Das kostet Geld.

Deshalb: Bitte nicht nachlassen , für unsere ehemaligen Friedhöfe zu spenden!

Wer Interesse an der Fahrt hat, teile mir dies bitte umgehend mit!

 

Wie bereits angekündigt, beginnt mit diesem Drewenzboten die postalische Wahl des Vorstandes und des Beirates für die Legislaturperiode 2012/13 an (siehe dazu Seite 31).

Ich bitte Sie  herzlich, regen Gebrauch zu machen. Die letzte Seite (31/32) kann abgeschnitten und mit Ihren Vorschlägen an Hans Brunst geschickt werden.

 Ihnen allen

gesegnete Weihnacht und ein gutes neues Jahr!

 

                                                                             Ihr Stephan Freiger  

Heimatkreisvertreter

 

 

 

 

Görzberg (Gorzno) bei Strasburg (Brodnica): Hotel "Alte Mühle" (Dworek Wapionka) am See

 

 

Liebe Heimatgemeinde !

So darf ich Sie anreden, obwohl seit der Vertreibung und den Flüchtlingsschicksalen im Jahre 1945 und danach schon 65 Jahre vergangen sind. So darf ich Sie auch anreden, obwohl wir nicht mehr im Kreis Neumark wohnen, sondern meist sehr zerstreut über die ganze Bundesrepublik Deutschland hinweg und darüber hinaus in manchen europäischen und sogar überseeischen Ländern. Schließlich darf ich Sie auch so anreden, obwohl schon viele unserer Angehörigen ihr irdisches Leben vollendet haben und unsere Zahl wesentlich kleiner geworden ist.

Es ändert aber nichts daran, dass wir aus demselben Heimatkreis stammen und die daher rührenden Kontakte so lange pflegen dürfen wie es möglich ist. Vor allem ändert es nichts daran, dass der, der unser Schöpfer ist, nicht gebunden ist an einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Zeit oder an bestimmte Umstände. In unserem Herrn und Heiland Jesus Christus will er zugleich für Zeit und Ewigkeit unser Vater sein, der uns nachgeht und heimholt aus allem, was uns Angst machen kann.

Das Jahr 2010 neigt sich nun sehr schnell seinem Ende zu. Im Nachdenken darüber ist es wichtig, wenn wir auf  die dazugehörige Jahreslosung achten. Sie steht im Johannesevangelium am Anfang des14. Kapitels: „Jesus Christus spricht: Euer Herz erschrecke nicht! Glaubt an Gott und glaubt an mich!“ In den sogenannten Abschiedsreden macht Jesus seine Jünger darauf aufmerksam, dass er bald von ihnen scheiden muss. Sie können das nicht begreifen und fragen nach dem Warum und danach, wie sie denn ohne ihn zurecht kommen sollen. Er tröstet sie mit den Worten, die unsere Jahreslosung bilden und fügt unmittelbar an, dass in seines Vaters Hause viele Wohnungen sind, dass er hingeht, ihnen die Stätte zu bereiten und dass er wiederkommen will, um sie zu sich zu nehmen, damit sie sind, wo er ist. Diese Verheißung gilt seiner Gemeinde auch heute.

Seit Erscheinen des Drewenzboten sind in den einzelnen Ausgaben immer wieder Andachten oder Hinweise auf Gottesdienste, Predigten und geistliche Ansprachen bei den Heimatkreistreffen erschienen. Darunter zählen auch solche von meinem Onkel, Helmut Steege, der,  geboren in Petzelsdorf  bei Neumark, dort zur Polenzeit sein Abitur machte und nach dem zweiten Weltkrieg im Westen Theologie studierte. Als Pastor der Hannoverschen Landeskirche wirkte er in den Gemeinden Hambergen, Scheeßel und Beckedorf, ehe er mit seiner Frau seinen Ruhesitz in Bad Nenndorf fand. Dort ist er am 10. November dieses Jahres  heimgegangen zu seinem himmlischen Vater. Dankbar denken noch manche unter uns an seine Predigt bei der Festveranstaltung zum 50-jährigen Bestehen des Heimatkreises, am 23. Mai 1999, in Hude, die er, wegen der Gäste aus dem heutigen Neumark, teils in Polnisch hielt. Er schloss  mit Worten Dietrich Bonhoeffers, die auch uns durch die Weihnachtszeit und in das Neue Jahr 2011 begleiten möchten:

„Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Ihr Rudolf Steege

 

 

 

Grußwort des Patenkreises Oldenburg zur Jahreswende 2010/2011

Das Jahr 2011 steht schon vor der Tür, denn mit großen Schritten neigt sich das Jahr 2010 dem Ende entgegen. Viele große und kleine, sowie fröhliche aber auch nachdenkliche Ereignisse haben uns bewegt. Über die Medien haben wir am Geschehen in der ganzen Welt teilgenommen, andere Dinge haben wir live erlebt. Zum Jahresende und in der Weihnachtszeit halten viele Menschen trotz der vielerorts großen Hektik inne, um die vergangenen Monate Revue passieren zu lassen.  Die bevorstehenden Feiertage und der Jahreswechsel sollen Inseln der Besinnung und der Ruhe, aber auch der Fröhlichkeit und des herzlichen Miteinanders sein.

In den kommenden Tagen hören wir sicherlich häufig: „Alles Gute, viel Glück im neuen Jahr, Friede auf Erden!“ Friede auf Erden - das ist ein großes Wort, eine Vision. Gerade deshalb  freue ich mich, dass wir an der partnerschaftlichen Verbindung zu unseren Freunden im Landkreis Nowomiejski ständig weiter arbeiten.

Ich freue mich, dass wir auch in diesem Jahr das herzliche Miteinander und die partnerschaftliche Verbindung zu unseren Freunden im Landkreis Nowomiejski weiter vertiefen konnten. So war beispielsweise im September diesen Jahres war eine Schülergruppe des Fachgymnasium Wildeshausen aus dem Landkreis Oldenburg im polnischen Landkreis Nowomiejski zu einem Besuch und Austausch.

Im Mittelpunkt standen Kennenlernen der verschiedenen Kulturen und die gemeinsame Erstellung einer Internetseite. Der jeweils anschließend erfolgte internationale Austausch von Erfahrungen brachte für beide Seiten neue Erkenntnisse und Sichtweisen. Die zahlreichen Gespräche während des Besuches führen erfreulicherweise zu immer engeren Kontakten und fördern die partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Landkreisen.

Allen Neumarkern und ihren Familien wünsche ich, dass sie nach der Hektik des Alltags in der Weihnachtszeit etwas zur Ruhe kommen. Genießen Sie die Stunden in der Winterstille aber auch die Fröhlichkeit und freuen Sie sich auf das neue Jahr. Schöne Weihnachtsfeiertage und alles Gute für das Jahr 2011!

                                                                       

                                                                 Landkreis Oldenburg

                                                                                Frank Eger

 

 

 

Aus Kriegsgefangenschaft heimgekehrt und geblieben!

 

Der Verfasser der nachfolgenden Erinnerungen, Gerhard Albrecht, geboren 1911 in Karben (Karbowo) bei Strasburg (Westpreußen),  starb in diesem Jahr, 99-jährig, in Strasburg. Er schildert eindrucksvoll was er, der, bevor er zur Wehrmacht eingezogen wurde, in Löbau als Buchhalter arbeitete, als russischer Kriegsgefangener, aber auch während und nach seiner Heimkehr, erlebte.

Sein Sohn, Stefan Albrecht, übersandte uns den Bericht.

 

Unsere Gefangenenlagerunterkunft in Kiew am Dnjepr roch intensiv nach gärender Menschenscheiße. Der Reihe nach gelang es dem Typhus uns fast alle tückisch umzulegen. Es war eine Epidemie ausgebrochen. Die Luft war faustdick und wirkte wie Rauschgift. Ein Kamerad, der auf der Bretterpritsche dicht an meiner Seite stöhnend lag, hatte irgendwie Tabletten ergattert, welche den Typhusausbruch mit allen Folgen etwas aufhalten sollten. Er gab mir eine Tablette für eine Schnitte oder einen Brocken Brot. So packte mich die Krankheit etwas später. Ich bildete mir dieses jedenfalls so ein, denn was das für Tabletten waren, wußte ich nicht. Aber ein tiefer Glaube wirkt angeblich wie ein Wunder!

Ein verdammt hohes Fieber, ein glitschiger Durchfall, den man nicht aufhalten konnte, machte mich im Laufe einer Woche endgültig fertig. Wir lagen auf der Bretterpritsche eng zusammengepfercht und ausgerechnet im Schlaf, wenn man warm wurde, legte das schreckliche Darmtheater in vielen Aufzügen los. Frühmorgens lag man dann erschöpft, bedammelt, zähneklappernd in Exkrementen, Schleim und Blut. Wie festgeklebt steckte man in der breiigen Scheiße. Unsere Bekleidung wechselten wir nur sehr selten. Sie war für Tag und Nacht gedacht.

Mit vollen Hosen schleppte man sich von der harten Bretterpritsche an einen nahen Bach (eigentlich breiten Graben), der von einer Gerberei kommend, durch unser Lager floß, um, fiebernd und fröstelnd, in mit Chemikalien getränktem Wasser die klebrige, stinkende "Bescherung" loszuwerden. Im reißenden Bach stehend, mußte man alles tun, nicht umzufallen. Natürlich halfen wir uns etwas gegenseitig, aber es gab auch Fälle, wo man leider nur auf die eigenen Kräfte rechnen konnte. Jeder hatte das Recht, an erster Stelle an sich zu denken und um sein Leben zu   kämpfen. Ob man in einer solchen Situation, unter anderen Bedingungen, anders gehandelt hätte, mag dahingestellt bleiben.    

Es war verboten, aus dem Bach Wasser zu trinken (was ja eigentlich klar war), aber schnappte man erst mal einen Schluck Flüssigkeit ins Maul, vergaß man Verbot und Vernunft. Das hohe Fieber, der brennende Körper (mit Schüttelfrost dabei), der wie verrückt schmerzende Unterleib, der trockene Holzstöpsel, die Zunge im Mund, machten einen völlig willenlos und der schreckliche Durst drückte den Kranken mit den zersprungenen Lippen auf die etwas Linderung bringende Wasserfläche. Und dann trank man, nein, man soff wie wahnsinnig, um dem Verlangen des Bauches gerecht zu werden. Leider kamen die Folgen solchen Handelns nur allzu schnell. Gegenseitig steckten wir uns an. Und so raste die Epidemie durchs Lager.

Bestimmt war der faulende Kartoffelhaufen an der ausgebrochenen Typhusseuche schuld. Wenn man den Arm entblößte, konnte man im Innern des furchtbar stinkenden Kartoffelhaufens noch Kartoffeln finden, die sich, entsprechend zubereitet, zum Fraß eigneten. Man verstand es sie heimlich, auf einen Draht gesteckt, zu backen. Manche behaupteten, daß gerade die schwarzgebackenen Kartoffelschalen ein erprobtes  Hausmittel seien, die Scheißereiepidemie mit Erfolg zu bekämpfen. Holzkohle ist ein nicht abzuweisender Beweis dafür. Aber die herumliegenden faulen Kartoffeln sprachen gewissermaßen dagegen. Auch aus dem Müllhaufen wurden moddernde Speisereste herausgewühlt und gegessen. Hauptsächlich schleimige Grünkohlblätter. Allerdings konnten auch die Läuse an der Seuche schuld sein.

Ich mußte mich schnellstens entscheiden. Im Fieberdusel mit vollen Hosen, stinkend, ging ich meinem Schicksal entgegen. Aus dem vor mir stehenden weißen Lagergebäude (so Art Krankenrevier) kam man nur als Toter, aber auch als besser oder schlechter wieder hergestellter Mensch heraus. Ein deutscher Sani (sie machten die dreckigsten und gefährlichsten Arbeiten bei den Russen) empfing mich schnauzend und wies mir einen Platz in der Reihe der Kranken auf dem Zementboden an der Wand an. Das Fieber entschied: ich mußte erst nach unten in den Krepierkeller, wo ich dann ein Liegeplatz bekam. Mit 41°C gehörte ich glattweg zu den "Aussichtslosen". Aber ich musste noch etwas warten. Man war mit einer Benzinspritze (es roch danach) mit einem Sterbenden beschäftigt. Plötzlich schlug man über ihm das Laken, auf welchem er lag, heftig zusammen. Einer der Sanihelfer  packte den Wickel am Kopf, der andere am Fußende und schnell haute man mit dem Leichnam ab, die Treppe aus dem Keller hinauf, fast 'ne Himmelsfahrt! Ein braver Wehrmachtssoldat hatte es wieder geschafft. Ob man von ihm zu Hause noch etwas erfahren hat? Wer wird der Nächste sein? Mich schauderte. Aber das Fieber ließ nicht zu, Gedanken nachzugehen. Alles war wie verschleiert. Nebelschwaden zogen mir vor den Augen vorüber. Mal hell, mal dunkel. Man stand an der Grenze zwischen Leben und Tod.

Es dauerte nicht lange und die Abdecker kamen zurück. Einer ergriff den durchnäßten und durchbluteten Strohsack, auf dem noch vor 15 Min. ein tapferer Landser gelegen hatte und dort dann still abgekratzt ist, drehte ihn heftig um und zeigte auf mich:

„Hau Dich hier hin und sei ruhig. Kriegst noch 'ne Tablette und paar Schluck Kräutertee. Scheißt Du Dich nachtsüber tot, dann ist es halt Deine private Sache und Du gehst den Weg Deines Vorgängers. Nicht zu empfehlen. Kneif also kräftig den Arsch zusammen. Morgen früh werden wir dann weiter plaudern und entscheiden. Unterdessen: Beten ist erlaubt!“

Frühmorgens kamen dann zwei Sanis. Der von gestern schob mir das Thermometer in die Achselhöhle und schrie mich nach einer Weile an:

 „Mensch, hab ich mich gestern geirrt? Du hast fast kein Fieber! Ich kann´s nicht glauben. Sofort kommst Du aus diesem eleganten Krepiersalon nach oben in die Parterre oder den I. Stock, wo diejenigen liegen, die dem Teufel entkommen sind. Dir scheint es gelungen zu sein. Aber freu Dich nicht zu früh, sonst kann Dein Darm übermütig werden. Du wirst den Russen einen Strich durch die Statistik machen. Ein Kadaver wird ihnen in der Planerfüllung fehlen. Gar nicht charascho!“

Der andere Sani half mir auf die wackelnden Beine und riß mir kurzweg alles, was ich hatte, vom Leder mit Ausnahme eines stinkenden, fast blechernen Hemdes. Ich fühlte mich schwach und klammerte mich an den Sani, aber merkte, daß das Fieber abgeflaut war. In der Nacht mußte ich nur einmal auf den Topf nach draußen. Kein Blut kleckerte mir an den Beinen herunter und auch der Bauch war ruhiger geworden. Er rebellierte nicht. Der mich stützende Sani meinte:

 „Jetzt mußt Du mit dem Arsch unter die Dusche. Dein Jacket mit dem Familienfoto darfst Du dann in die neue Bude mitnehmen. Alles andere wird verbrannt. Du kriegst noch ein Apostelgewand, ein Laken, das erst mal Deine Kleidung sein wird. Dann los! Die recht kühle Dusche wird Dich schon mobil machen.“

Daß die Sanis nicht besonders gut gelaunt waren, konnte ich verstehen. So oder so – sie machten für die Kranken ein Stück verdammt schwere Arbeit. Und Kranke haben bekanntlich allerlei Launen. Der Chefsani war ein Asiat mit einem Quadratgesicht, vorstehenden Backenknochen und Schlitzaugen. Er war immer im Fuseldusel, lächelte jeden an und schnitt dabei komische Fratzen. Man konnte ihn nicht entziffern. Wie die chinesiche Schrift. Er versuchte immer Deutsch zu sprechen. Am besten gelangen ihm freudig die Worte "Du Schwein!". Und er lächelte dann besonders breit dazu, schloß die schmalen Augen und klopfte dem „Schwein“ mehrmals auf die Schulter.

Das mir in Parterre angewiesene Bettgestell mit Strohsack, fast ohne Stroh, und dünner Decke, stand mit dem Kopfende am Fenster. Das paßte mir. Meine Jacke, der man nichts entnommen hatte, also mit dem Familienfoto Bohnacker aus Esslingen, hängte ich ans Fenster, legte die Feldmütze aufs Fensterbrett, die Latschen unters Bett, hüllte mich, laut Anweisung, in das Laken, das uns Nachthemd und "Ausgangskleidung" war, kroch auf den recht harten Strohsack und mußte zugeben, nach langer Zeit wirklich in einem fast richtigen Bett zu liegen, obendrein von den Russen "spendiert"! Man gab uns eine kleine Portion dicken Reismehlbrei und ein Stückchen Schwarzbrot dazu, das man lutschen mußte, abbeißen und kauen ließ es sich nicht. Auch Tee gab es, der nach Apotheke roch. Alles dreimal täglich. Ein Erholungsheim, fast I. Klasse!

Früh und nachmittags maß man das Fieber. Dann kam auch ein Sani mit seinem "ärztlichen" Gerät und kommandierte:

 „Meine Herren, fertig machen zum ärztlichen Eingriff!“ Wir waren fünf Mann in den Betten an der Wand am Fenster und auf Befehl drehten wir uns im Nu um, entblößten und speilten gehorsam die Ärsche, die wir entsprechend nach oben reckten. Der Sani verpaßte uns allen der Reihe nach in den After einen tüchtigen Klistiereinguß, wozu er eine violette Flüssigkeit verwandte. Was das für Jux war, wußten wir nicht. Der Patient muß doch nicht alles wissen. Aber es schien zu helfen. (Ich erinnerte mich, daß meine Mutter bei auftretenden Geflügelkrankheiten solche Arznei verabreichte). Der Sani befahl dann:

„Hinlegen, möglichst lange den Einguß im Bauch behalten, erst dann draußen abprotzen! Denkt daran! Das ist Euer, nach Shakespeare, "Sein oder Nichtsein"! Hoffentlich sehen wir uns alle morgen wieder.“

Während der ganzen Krankheit sprachen wir fast gar nicht miteinander. Wir kamen aus verschiedenen Formationen und waren uns fremd. Einmal stieg das Fieber, fiel dann wieder. Einmal war man fast gesund, normal, um dann wieder in eine Duselei abzurutschen. Mich plagten dauernd allerlei Träume. Nach dem Aufwachen wußte man meistens nicht, was los ist, wo man sich befindet, was für Nachbarn man hat.

Gewöhnlich war man dann dermaßen kaputt, daß man beim Brotknabbern wieder in einen Traumzustand fiel, zu Hause war, an der Front, unter gefallenen Kameraden, in irgend einer fremden Welt mit Gespensterfratzen, Gräuelerscheinungen usw., bis sich heftig der Darm meldete. Man raffte sich hoch, wickelte sich in das Laken wie in einer Tracht aus alten Zeiten ein und rannte zur Tür hinaus, um schnellstens zum Klo zu kommen. Der Steig und das Gras daneben waren fürchterlich besudelt und man mußte aufpassen, nicht auszuschlittern. Es wurde Kalk gestreut, der dann an den Latschen hängen blieb. Die Seuche plagte uns ungefähr einen Monat.

Nach etwa zwei Wochen befand ich mich unter denen, die als genügend ausgeheilt angesehen wurden. Aber vor meiner Entlassung war noch etwas geschehen, was wohl nichts mit dem Typhus zu tun hatte, aber während dieser Zeit geschehen ist.

An einem Tag kam nämlich ein junger deutscher Sani in unseren Raum gerannt, sah sich um, bückte sich eilig vor einem am Stuhl stehenden Pantoffelpaar, kramte da etwas herum, schob die Pantoffel zurück und verschwand wieder recht eilig. Mich machte sein Verhalten neugierig. Die anderen Leidesgenossen im Raum schliefen, oder schienen zu schlafen. Ich kletterte behutsam von meinem Lager, schlich zu den Pantoffeln, steckte meine Hand in einen der Pantoffel. Und siehe da, ich zog aus dem Pantoffel einen goldnen, breiten Trauring heraus! Der Gute hatte den Ring wahrscheinlich einem Todeskandidaten stibizt (oder auch von ihm erhalten?) und die Beute hier einstweilen verstaut. Alles möglich. Da ich Schritte hörte, zog ich mich mit dem Ring rasch auf meine Pritsche zurück. Es war nicht der vorherige Sani, sondern der alte deutsche Arzt. Er sah sich um und verließ wieder den Raum. Ich hatte nicht mehr Gelegenheit, den Ring zurück in den Pantoffel zu stecken. Immer kam  etwas dazwischen, eines Tages waren die Pantoffel weg. Ich versteckte den goldnen Trauring in das Unterfutter meiner Feldmütze und schwieg. Was dann mit dem Ring geschehen ist, werde ich am Ende meines Berichtes verraten.

Vor der endgültigen Entlassung aus der Krankenbude kam noch mal ein Sani mit unserem Arzt, denen ein russischer Wratsch (Arzt) voranging. Er sagte mir, ich soll den Anwesenden übersetzen, daß Rußland alle Gefangene menschenfreundlich behandelt, was leider Deutschland mit den russischen Gefangenen nicht macht. Dann mußten wir aus unseren Betten (Liegeplätze) raus oder runter, die Laken ablegen, um nackt beguckt und taxiert zu werden. Fünf von uns bestanden das "Examen“, bekamen neue Wäsche (Hemd und Unterhose), auch neue Tuchhosen. Gott sei Dank, man ließ uns die alten, wenn auch verlausten, Jacken und Feldmützen. Für mich war das wichtig — in der Jacke hatte ich doch meine Familie Bohnacker, in der Mütze den Ring. Man rasierte uns auch noch und schnitt uns die Haare. Als ich mich im Spiegel sah, bekam ich Angst, denn ich sah da einen Erzräuber oder einen Urwaldmenschen mit einer Affenvisage und mit roten, jämmerlich bösen Glotzaugen. Das Haar stand mir in Strähnen zu Berge, Man schnitt es mit der Maschine vom Nacken über den Kopf bis an die Stirn, machte einen "Läuselaufweg", ließ die Seiten länger (wie es manche Heilige haben), um auf diese Weise einen evtl. Flüchtling aus dem Lager schneller zu erkennen.

Draußen, vor dem großen Reviergebäude, warteten schon angeblich gesunde Leidesgefährten. Der gut bekannte Asiat mit dem Quadratgesicht grinste uns einladend an und vergaß nicht, uns in Deutscher Sprache zu begrüßen — "Du Schwein!". Dann taumelte er im Alkoholdusel singend davon. Ein russischer Sani machte mit uns einige Exerziernummern, die ihn überzeugen sollten, daß wir wirklich ausreichend hergestellt sind. Aber es war erträglich — Kniebeugen, Pumpen, Recken, Strecken, Springen, Robben usw.. Die Hauptnummer, von der angeblich die Entlassung aus der Krankenbude abhing, war weit schwieriger.  Es hieß, die Arme vor dem Bauch entsprechend zu krümmen, auf die man einige Ziegelsteine lud und mit denen man dann schnurstracks schnellstens abhauen mußte, geradeaus vor sich hin, fast immer bis zum Umfallen oder Zusammenbrechen. Überschritt man die Minimumentfernung etwa 50 m, wurde man als gesund erklärt. Die Russen hatten dabei natürlich einen Heidenspaß. Noch schwach, fielen wir fast alle auf die Schnauze. Aber die Kerle waren nicht so genau. Sie wollten die germanischen Hosenscheißer schnellstens aus dem Haus haben.

Also waren wir alle wieder schön gesund!     

 

Motto: Es flüchtet die Freude,

es schwindet das Letzte,

die Jahre verrauschen im Strome der Zeit.

Was lieb uns — verläßt uns, sei's früh oder späht,

nur eins — die Erinnerung niemals verweht!

Es war September geworden. Seit Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Man gab uns das Ereignis mit Hallo bekannt: Über dem Appelplatz kreiste ein Doppeldecker aus ihm versuchte ein Sprecher von oben uns diese Begebenheit klar zu machen. Aber das machte dann ein Offizier von der Lagerobrigkeit besser.

 Ein Dolmetscher (es schien mir ein Jude gewesen zu sein) übersetzte die Siegeskundgabe auf seine eigene Art. Daß er tüchtig danebenhaute, wußte ich, denn der polnischen Sprache kundig, verstand ich gar nicht schlecht das Russisch. Aber so oder so — es hieß kurzweg, Hitlerdeutschland sei kaputt, gleichzeitig auch der Führer für immer mit seinem 1000-jährigen Reich. Der Dolmetscher war auf eine umgedrehte Tonne geklettert und fuchtelte während der Ansprache, heiß anteilnehmend, tüchtig mit seinen Armen herum. Die Tonne brach plötzlich zusammen und der ganz heiser gewordene Überlieferer des großen Sieges der Roten Armee kippte auf die Schnauze.

Natürlich wurde mit Anerkennung geklatscht. Ob es dem Siege galt, oder der Zirkusnummer des Dolmetschers, soll dahingestellt bleiben.

Mich quälte die Frage:

Wie sieht es zu Hause im Westen, aus? Wo stecken die Angehörigen, wenn sie noch leben? Das "Neue Deutschland", eine Wandzeitung, brachte beruhigende Nachrichten. Ob und wie weit sie der Wahrheit entsprachen, wußten wir nicht. Wir meinten, es sei bestimmt Quatsch. Jeder ging seinen Gedanken nach. Ich auch. Wie sieht es in Karben (Karbowo) aus, was machen meine Mutter, meine Schwester Irmgard, mein Bruder Werner (Jeff), mein Neffe Theo, meine Nichte Ulla (Ursula)? Man konnte vorgedruckte Postkarten schreiben. Aber ein Kollege aus Zbiczno, Kr. Strasburg (Westpr.), nahe Karben, der in der Lagerküche tätig war und mir manchmal einen Happen zuwarf, sagte mir, daß er mit unseren Karten das Feuer im Ofen anzünde. Das war eigentlich nicht schwer zu erraten.

Plötzlich ging Ende September 1945 das Gerücht um, daß man Arbeitsunfähige nach Hause schicken will. Und wirklich: Wir wurden wieder mal gebadet, entlaust (was nicht viel half), bekamen frische Wäsche (aber blieben in den alten Uniformen, wo sich die Läuse weiterhin wohlfühlten) und wurden ärztlich untersucht. Das war kaum nötig. Zu den Arbeitsunfähigen gehörten Verwundete (die nicht gesundeten), Invaliden, Todeskandidaten, Schwächlinge, die den Typhus wohl überstanden hatten (so wie ich), aber wie besoffen herumstolperten. Splitternackt mußten wir, wie zu einer Schwanzparade, vor einigen jungen Ärztinnen antreten, kehrt machen, denn sie wollten uns hauptsächlich von hinten sehen, um von dort noch einmal festzustellen, wie es mit unserer Arbeitstauglichkeit wirklich aussieht. Sie unterzogen uns einer einfachen Arschbackenuntersuchungsmethode. Ein fester Griff in die Backe und die Diagnose war fertig! War der Arsch weich, wabblig, bestand er nur aus Haut und Knochen, bekam man die Untersuchungsnote "schwach/unterernährt/stark arbeitsuntauglich". Hatte man den Po im besseren Zustand, wurde man als "bedingt arbeitstauglich" angesehen. Und so weiter. Ich gehörte eigentlich zu der zweiten Gruppe, da ich keine Hunger- oder Herzkrankenklumpfüße hatte, aber das blinde rechte Auge verhalf mir dazu ("Hitler wird es dir wiedergeben!"), daß ich als entlassungsreif angesehen wurde. Wer mit einer festen Arschbacke kam, mußte angeblich noch zurückbleiben, was aber nicht zutraf, denn ich sah dann später solche doch unter den Entlassenen. Die Mädel (Studentinnen?) wollten wahrscheinlich nur etwas "üben", Praxis erfahren. An ihrem Kichern konnte man es merken. Deutsche von vorn und hinten befummeln. Na, nicht so schlimm! Ob ihnen die nicht gerade gesunde "Gesichtsfarbe" unserer Ärsche gefallen hat?

Im Lager sagte man, die Latrinen sind ständig voll und darüber. Zu viel Germanen arbeiten nicht, lungern herum, fressen gratis und sitzen dann dauernd auf den elastischen, schmalen Brettern, die über den recht breiten Scheißgruben liegen. Das darf nicht sein. Übrigens laut dem Gebot "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" müßten diese Halunken keine Verpflegung kriegen. Doch krepieren wollen sie nicht. Wohl auch ein Grund, uns loszuwerden.

Zum Abschied kochte man einen dicken Brei, eine Fischmehlsuppe, wozu das Mehl aus Säcken mit der deutschen Aufschrift "Fischmehl, das gute Viehfutter", stammte. Es schmeckte sogar gut und sättigte, aber man mußte aufpassen. Gut, daß die Holzlöffel klein waren. Grätensplitter können gefährlich sein. Mit vollen Kaldaunen gingen wir auf dem Appellplatz noch ein bißchen auf und ab, wo während der Sommerhitze im Juni der seinerzeit zugeschüttete Latrineninhalt gärte und Knochen aus der Erde spuckte. Ob es Menschenknochen oder Tierknochen waren, wußte man nicht, oder wollte es auch nicht wissen. Manche, die hungrig waren, machten aus den Knochen Knochenmehl, welches dann eine Suppe gab. Mit zwei Steinen zerkleinerte man die Knochen zu Mehl. Verschiedene Knochenteile (z.B. Kniescheiben) sind ja nicht besonders hart. Unser „Mahl“ amüsierte die Lagerobrigkeit, sie machte sich über uns lustig. Nach dem üppigen Fraß antworteten wir mit kräftigen Fürzen. Das war bestimmt kein nobles Auftreten, aber entsprach im Wert gewissermaßen Wanzen, Superläusen (wohl eine Kreuzung zwischen Laus und Elephant) und anderen Sauereien, denen man ausgesetzt war.

Da es im Lager darum ging, durchzuhalten, um wieder nach Hause zu kommen, musste man alles tun, gesund und stabil zu bleiben. Die Verpflegung war klein und eintönig, (übrigens auch die Wachen hatten vielmals nichts anderes). Jeder suchte etwas zusätzlich in den Magen zu kriegen. Ich gehörte zu denen, die erstmals Melde am Zaunrand (und in jeder Reichweite) wegfraßen. Während der Arbeit in einer Ziegelei (Kirpitschnij Zawod Kijow) als Lehmtrampler, der Hitze wegen vielmals nackt, machten wir verschiedene Kräuter aus, die unser Menu bereichern konnten. Bei mir war es die weiße Melde (wie schon gesagt) und Hundskamille, die sich jedoch, gekaut, schwer schlucken ließ. Aber man machte im Mund Speichel und würgte sie irgendwie herunter. Das waren unsere Vitamine! Das betraf auch Meerrettichwurzeln, aber die waren im Mund und Schlund verdammt scharf und ich ließ sie weg. Es hieß: aushalten und durchhalten. Wer hatte Lust, im Sand des Dnjepr-Ufers auf die versprochene Auferstehung zu warten? Übrigens knirscht Sand bekanntlich in den Zähnen! Das kann nicht jeder vertragen, besonders der, der im Mund Zahnersatz hat, wie ich.

Viele von unseren Kameraden sind an dem breiten Fluß auf immer geblieben. Trotz der Zulage für fleißige Arbeit – ein getrockneter, salziger Schwarzmeerhering für drei Mann, oder zusätzlich den großen Suppenkessel auszulecken. Ich habs geleckt, manchmal in Vertretung eines Albrecht aus Danzig, wenn der sich krank meldete.

Am Lagertor spielte ein schnell zusammengestelltes Orchester. Gar nicht schlecht klang zum Abschied der Marsch "Leb wohl, du kleiner Gardeoffizier, leb wohl"! Wir standen in Reih und Glied und hörten, wie die deutschen Offiziere uns aus ihrem Lager überm Zaun ihre Adressen zuriefen: "Bitte, gebt in der Heimat Bescheid, daß wir leben!"

So wie alle, hatte ich Holzpantoffeln an den barfüßigen "Hufen", mit Konservenbüchsenblech beschlagene Treter. Am Knopfloch, mit Zaundraht angebracht, mein Eßgeschirr - eine Einliterblechbüchse mit der Aufschrift "Horsemeat", versehen mit einem Drahthenkel (eigenhändig konstruiert!). Ein sehr wichtiges Stück in meiner Ausrüstung, denn diese amerikanische Büchse wurde nach Bedarf vielseitig benutzt: als Waschschüssel, als Pißtopf (wenn es die Umstände verlangten), zum Suppe fassen.

In der Hand hatte ich einen, von einem Kameraden geschnitzten, Stock. Ich hatte Gehschwierigkeiten einer nicht ganz ausgeheilten Wunde am unteren rechten Schienbein wegen, die wie verrückt schmerzte. Gekleidet war ich etwas anders als die übrigen Kameraden. Einer russischen Offizierschickse gefiel mein Luftwaffenmantel. Sie hat also beim Verhör bei "ihrem" Offizier meinen Mantel in einen langen, grünlichen, tschechischen (ungarischen?) Infanteriemantel eingetauscht (mit einem hohen Kragen). Auf dem kahl geschorenen Schädel hatte ich eine Arbeitsdienstmütze, die ich auch als Tauschobjekt bekommen hatte. Ich war schon ein ganz komisch gekleideter Soldat.

Mir waren keine Dokumente (z.B. das Soldbuch) geblieben. Man hatte alles beschlagnahmt bzw. die Wachen nahmen es. Sogar die Erkennungsmarke. Nur ein Foto hat man mir gelassen. Es war das Bild einer Frau Edith Bohnacker aus Esslingen a/Neckar, Heimstätten, Neckarhalde, mit einem Kind (siehe Bild). Das musste als meine Familie herhalten. Ich sagte immer den Russen geradezu flehendlich, es seien meine Ehefrau und Tochter. Ich wollte die Aufnahme als einziges Lebenszeichen bei mir haben. Charascho! So ließ man mir die Beiden. In vielen Fällen wurden sie dann später so richtig meine Schutzengel.

(In der Nachkriegszeit konnte ich leider in Esslingen eine Familie Bohnacker nicht ausmachen. Mir scheint heute noch immer, ich bin den Beiden etwas schuldig, Wie ich zu diesem Foto kam? Durch ein Päckchen, eine Spendensammlung für uns Soldaten. Wahrscheinlich durch die vielen Versetzungen konnte und habe ich mich nie dafür bedanken können.)

Unsere Marschkolonne, der das frohe Furzen bald vergangen war, ging und kroch dem Bahnhof entgegen. Mich nahmen zwei Kameraden unter die Arme. Nur nicht zurückbleiben!

Das Bein wurde mir zur Hölle. Schweißübergossen kam ich vor dem Verladeplatz an. Ein Güterzug mit schreiender russischer Besatzung wartete schon und fluchte auf Teufel komm raus. Man verteilte uns und schubste uns schnell in die Waggons, die gar nicht einladend aussahen. Aber wer guckte schon darauf. Jeder mußte auf dem Ärmel oder auf dem Rücken die russischen Buchstaben "B"(also WP, wojenny plenny - Kriegsgefangener) haben.

Wichtig in den dunklen Waggons waren die Logiermöglichkeiten und die "Toilette". Diese bestand aus einem Loch im Wagenboden, in welchem man an einer Seite schräg nach oben eine etwa 10 cm breite Latte angebracht hatte. Wir nannten sie sofort Scheiß- und Pißlatte, da sie diesem Zweck dienen sollte und auch diente, ganz gleich wie es dem am Loch liegenden Mann erging. Wir schliefen zusammengepfercht auf dem Boden. After und Blase schlafen vielmals weniger ruhig. Deshalb wurde jeden Abend der Platz am Loch der Reihe nach gewechselt. Jeder sollte die Freude haben, frisch angepißt oder angeschissen zu werden. Jeder gab sich natürlich Mühe, möglichst zielgenau die Latte zu nutzen. Trieb es ihn an die Latte, war er schlimm dran, er verlor seinen Liegeplatz. Der war weg, zusammengerutscht.

Zwei Wochen lang wackelten wir durch die Gegend (die wir kaum sahen), bis wir an die neue polnische Grenze kamen. Mit der Verpflegung war es verschieden, aber man fuhr doch nach Hause. Obwohl einen jeden allerlei Gedanken plagten, war doch zu sehen, daß sich die Leute freuten. An einer Haltestelle konnten wir belaubte Gebüschzweige in die Waggons werfen. Darauf konnte man etwas weicher liegen und an den Blättern bedächtig kauen. Wie uns bekannt gemacht wurde, war zu Hause schon alles bestens geregelt. Also noch ein bißchen aushalten! Dann kann man sich wieder so richtig sattfressen. Unsere Fantasie übertraf alles. Der neben mir auf den Ästen liegende Kamerad spukte Blut und hüstelte dauernd. Ich verkroch mich in meinen hohen Kragen und beobachtete den Kranken. Aber wie konnte ich ihm helfen? Er sah mich traurig an und flüsterte von Zeit zu Zeit: Schaff´ ich es noch bis Leipzig? Ich tröstete ihn, es sei nicht mehr allzu weit. Aber ich sah - bald werde ich wieder einen Kameraden verlieren. Der russische Wachmann sollte einen Arzt holen, aber den  sah ich nicht wieder.

Auf polnischem Gebiet besorgten die eingedeutschten Polen, die unter uns waren, irgendwie weißrote Fähnchen, also in polnischer Nationalfarbe. Aber sie waren in deutschen Uniformen. Die Bevölkerung reagierte sofort mit einer heftigen Steinkanonade. Fluchworte und Geschrei begleiteten die "Begrüßung". Auf eine solche hatte wohl manch einer nicht gerechnet. Natürlich verschwanden die Fähnchen im Handumdrehen.

Dieser Vorfall gab sofort Stoff zum Nachdenken. Soll es überall so sein? Auch mir kamen Bedenken. Wie wird es bei uns in Karben sein? Ich wurde immer mehr pessimistisch. Was man "Oben" zur Kenntnis gibt, sieht meistens "Unten" ganz anders aus. Die Okkupationszeit war für viele Polen und ihre Familien nicht leicht. Ich habe es gesehen. Na, aber einstweilen wollen wir guter Laune sein und nicht gleich zu schwarz sehen. Die Ohren steif, den Kopf hoch! Mit Zuversicht dem Ungewissen entgegengehen.

Nach zwei Wochen standen wir endlich auf dem Bahnhof in Posen (Poznan). Mein kranker Kamerad starb still auf einer Bank auf dem Bahnsteig. Ich drückte ihm schnell die Augen zu. Bahnbeamte waren zur Stelle. Ich mußte eilig zu meinem Waggon, der Zug begann schon zu rollen. Es ging weiter.

Plötzlich, vor Neutomischel (Nowy Tomys´l) machte man wieder Halt. Es ertönte ein lautes Kommando: Alle raus, aussteigen! Das wollte mir gar nicht gefallen. Anderen auch nicht. Was wird hier gespielt? In Polnisch und Deutsch wurde bekanntgegeben:

1. Unter den Gefangenen sind SS-Soldaten. Dem muß nachgegangen werden.

2. Die aus Polen stammenden Wehrmachtssoldaten bleiben in Polen, wo sie Beschäftigung kriegen werden. (Wir waren übrigens in einem extra Waggon).

So fuhr ein Teil der Gefangenen weiter nach Westen, ein anderer Teil zurück nach Posen (Poznan) in ein Quarantänelager. Zu letzteren gehörten auch alle Österreicher. Hier beguckte man die Zurückgehaltenen noch einmal gründlicher, merzte die ermittelten SS-Soldaten aus (wie, kann ich nicht sagen, obwohl ich die Festnahme eines solchen sah) und der Rest konnte nach 14 Tagen, nach einem, von der Miliz, UB-Sicherheitsdienst, durchgeführten "Examen", frei nach Hause, nachdem sie einen entsprechenden Passierschein bekommen hatten. Zum Ausstellen von Passierscheinen brauchte man Schreiber. Ich meldete mich. Die roten Wische, auf Tod und Leben wichtig, erhielten einen Stempel, und die Unterschrift eines höher stehenden Funktionärs. Ich stellte mir auf alle Fälle zwei Passierscheine aus, ließ erst einen stempeln und unterschreiben, dann, als die "amtierenden" Funktionäre wechselten, einen zweiten. Anders ging es nicht, der einzige Stempel befand sich immer beim Unterschreibenden. (Überall drehten sich russische Soldaten bzw. Uniformierte herum. Mag sein, sie waren von der NKWD, einer scharfen russischen Geheimformation.) Meine Passierscheine lauteten nach Karben (Karbowo) und nach Löbau (Lubawa), wo ich eine Zeit lang, vor der Einberufung zur Wehrmacht, gearbeitet und gewohnt habe.

Übrigens, die Österreicher entließ man nach 14 Tagen Quarantäne mit dem Befehl:  marsz, da domu! Marsch, nach Hause! Die Männer standen unentschlossen da und wußten nicht wohin. Die Wärter lachten. Aber bald fanden sich polnische Frauen, die die Armen mitnahmen. Österreicher hatten unter der Bevölkerung eine weit bessere Marke. Am schlimmsten waren die Deutschen und die eingedeutschten Polen aus Schlesien und Westpreußen (Pomorze) dran. Das waren alles Verräter!

Nachdem mir ein polnischer Sani das Bein in den zwei Wochen einigermaßen zurechtgepustet hatte, machte ich allem Anschein nach einen großen Fehler. Ich hätte erst einmal in Posen bleiben und unter den Bauleuten eine Arbeit annehmen sollen. In Kiew gehörte ich  - zwar vorwiegend als Dolmetscher tätig - nämlich zu einer Malergruppe, geführt von drei Mädeln (Natascha, Tamara und der Kalmückin Maruscha). Wir machten aus Kreidemehl und Sonnenblumenöl (mit Benzin gemischt) Fensterkitt und malten mit Alabastermischung die Säle in der teilweise heilgebliebenen Politechnik. Neben der Ukrainerin Natascha war ich recht erfolgreich. Das hätte mir in Posen genügt.

Da so verschiedene Gerüchte kursierten (die Pantoffelpost brachte keine guten Nachrichten), hätte ich in Posen erst einmal etwas herumhorchen sollen, was überhaupt in Westpreußen (Pomorze) und in Karben  los ist. Der Post konnte man noch nicht so richtig glauben. Funktionierte sie schon richtig? Ich hätte an Bekannte schreiben müssen. Aber hätte ich Antwort gekriegt? Manche Bekannte konnten verzogen sein, oder nicht mehr leben. Außerdem gab es Kameraden unter uns, die der Meinung waren, man wird uns zu Hause nicht gleich hängen, also könnte man doch sehen, wie es daheim wirklich aussieht. Ich hatte weiterhin Bedenken, aber ließ mich dann doch von der Mehrzahl überzeugen und mitreißen.

Das Rote Kreuz in Posen gab uns die nötigen Dittchen, um nicht betteln zu müssen. Vor der Abfahrt nahm mich eine Eisenbahnerfrau mit und beköstigte mich, aber als ich ihre Meinung über die Westpreußen, über die Poworzacy, Vaterlandsverräter usw. hörte, bedankte ich mich schnellstens, denn ihre patriotische Faselei kam mir zum Halse raus! Was das Weib da alles zusammenquatschte !

Kurz nach Mittag waren wir drei Mann, die in Richtung Allenstein (Olsztyn) fahren wollten. Der Zug paßte. Leider war er schon proppenvoll. Aber ein Waggon hatte ein fast flaches Dach mit Seitenbarrieren. Da hatte man Halt und konnte bei der Fahrt nicht runterfallen. Obenliegend kamen wir nach ein paar Stunden zähneklappernd, durchgefroren, schwarz wie die Schornsteinfeger, hustend und hungrig in Goßlershausen (Jablonowo) an. Es war eine äußerst schwere, Selbstüberwindung fordernde Fahrt. Von den ruckartigen Bewegungen und dem Schaukeln des Zuges war man kaum bei Bewußtsein.

Goßlershausen schien uns am nächsten zu unserem zuhause liegen. Einer von uns wollte nach Briesen (Wabrzezno), der andere in die Gegend von Graudenz (Grudziadz), ich nach Strasburg (Brodnica).

Derweil die Eisenbahner, die Miliz und wahrscheinlich Russen (der Sprache nach) herumfluchten, gelang es uns, in den Wartesaal zu kommen. Gut, daß andere Reisende sofort zur Ausgangstür eilten. Als uns die Bedienung, eine junge weibliche Person, in der Bar erblickte, fielen ihr fast die Augen aus dem Kopf.

„ Herr im Himmel, wer seid ihr? Wo kommt ihr her? Aus der Hölle?“

Ich quakte da etwas und bat um Entschuldigung.

„Seid ihr verrückt geworden? Wißt ihr wirklich nicht, was hier los ist? Schnell nach hinten, hinter den Vorhang und schweigen! In solcher Kleidung! Hat euch die Miliz oder die russische NKWD nicht gesehen? Hier wird immer noch aufgeräumt, heimgezahlt, nach ehemaligen deutschen Soldaten  und polnischen Aufständigen (AK, NSZ usw.) gefahndet. Oder ist euch das Leben nicht mehr lieb? Ihr Blödköpfe!“

Kurz: in einem kleinen Raum, oder einer Kammer, bewirtete uns das Barmädel. Sie brachte Graupensuppe mit Kartoffeln und mit etwas verdächtigen Fleischbrocken drin. Wenn es auch in einem nachttopfähnlichen Gefäß serviert wurde, wir baten um mehr. (Teller und Schüsseln waren nicht da). Kinder, war das ein Fraß! Und dann befolgten wir ihren Rat, obwohl das mit einem recht großen Risiko verbunden war. (Bis heute muß ich noch an die Unbekannte denken, die bestimmt sehr viel wagte, vielleicht auch Familienangehörige in einer ähnlichen Lage gehabt hatte). Auf ihren Wink verließen wir einzeln den Raum, um vorsichtig irgendwie zu verschwinden. Die Dunkelheit half uns. Die Frau sagte noch, wir seien nicht die Ersten, die hier angekommen, die jetzt nicht mehr unter den Lebenden sind.

Erst verschwand Briesen (Wabrzezno), dann Graudenz (Grudziedz), zuletzt ich. Ich wusste von der Barfrau, daß in 10 Minuten ein Güterzug nach Strasburg (Brodnica) abgeht. Zum Abschied sagte sie:

„ Weiter mußt du allein fertig werden. Aber jetzt sofort weg! Merk dir - wir kennen uns nicht, wir haben uns nie gesehen. Aber ohne einen Zivilanzug wirst du es recht  schwer schaffen. Ich kann dir keinen geben. Sei vorsichtig! Mög es dir gelingen!“

Später erfuhr ich, daß sich sogar Polen untereinander anklagten, angeblich wegen Deutschfreundlichkeit, auch wenn es nicht so war. Aber man wollte auf diese Weise zu etwas kommen. Nur das war wichtig, ein Menschenleben nicht. Haß, Gierde, Besitzgeiz - alles am Tage. Die neuen Behörden nahmen alles für gut und wahr zur Kenntnis. Zeugen konnte man leicht finden. Die fehlen nie, wenn ihnen ein fetter Happen winkt.

So um 22,30 Uhr war ich, in einem leeren Güterwagen sitzend, in Strasburg (Brodnica) eingetroffen. Da ich die Umgebung des Bahnhofs gut kannte, konnte ich nach einiger Zeit den fast leeren Bahnhof ungesehen, über die Gleise in Richtung Karben (Karbowo), verlassen. Die recht schlechte Beleuchtung half mir dabei. Ich merkte, daß sich niemand für mich interessierte. Das paßte mir. Von der Miliz keine Spur.

 

Auf der Chaussee angelangt, trat ich den mir gut bekannten Weg nach Hause an. Mir begegneten einige Personen, aber sie eilten an mir vorbei, guckten mich nicht an.  Es war inzwischen wohl 23,00 Uhr geworden. An meiner Volksschule aus Kindertagen vorbei, war ich bald auf den Landweg, der über die Kreuzung vor Milewski (Kowalski) schnurstracks nach Hause führte. Da wurde ich plötzlich schlapp. Die alten Weiden begannen vor meinen Augen zu tanzen. Ich mußte mich an einem Baum niederlassen. Eine lähmende Schwäche überkam mich. Etwa 500 m vor unserem Gehöft. Doch der recht kühl über die Felder wehende Nachtwind machte mich nach einiger Zeit wieder wach und mobil. Gott sei Dank! 

Es war der 9. Oktober 1945 und ich war nach dem langen Krieg, nach der langen Abwesenheit fast wieder zu Hause! Wen werde ich antreffen? Mama, Irma, Theo, Ursula und vielleicht sogar Jeff? Die werden aber Augen machen.

Behutsam, langsam, schlich ich, fast wie ein Dieb, dem vor mir liegenden Gehöft entgegen. Ich vergaß fast zu atmen. Etwa 50 m vor dem Obstgarten lief ein Panzergraben, noch nicht ganz zugeschüttet, über den Landweg, von Gutsbesitzer Lehmanns Felder kommend, um links über Görzens Land auf unserem Neuland zu verschwinden. Hefte, Bücher und anderes Papierzeug lag im Graben. Ringsherum war es totenstill. Ein beklemmendes Gefühl. Mich fröstelte. Und da erschien, ganz nah, das Vaterhaus mit den ausgebrannten Stallungen, mit den dunklen Fenstern, vor mir. Ich bin da! Wieder zu Hause!

Das Tor vor dem Hof war weg. Ich ging schnell dem linken Fenster neben der Treppe, vor der Haustür, entgegen. Ich horchte. Es war still. Was und wen werde ich antreffen? Mir wurde heiß. Ich schnappte nach Luft. Meine Hand zitterte. Ich hob sie und klopfte dann entschlossen an die dunkle Fensterscheibe. Und dann noch einmal. Drinnen rührte  sich etwas oder jemand.  Dann meldete sich ein Hund.

Hinterher eine fremde Männerstimme:

„ Kto tam? Wer da?“

Ich nannte meinen Namen. Darauf hörte ich eine nervöse Unterhaltung zwischen mehreren Personen auf polnisch.

„ Albrecht? Tu nie ma Albrechtow. Hier sind keine Albrechts. Wo sie sind, wissen wir nicht. Vielleicht schon tot. Gehen Sie weiter.“

Aber ich ging nicht weiter. Bin ich zu Hause, oder bin ich nicht zu Hause? Nach einigem Hin und Her öffnete man die Tür. Ich stand im Flur, dann in unserer einstmals "guten Stube". Mir gegenüber der mir bekannte Landarbeiter Stoinski (er wohnte früher am Niskie-Brodno-See bei der Familie Ozdzinski), neben ihm eine verschlafene Frau mit einer ausgesprochenen Hexenvisage, ein paar Kinder, ein kleiner Hund. Aus dem Schlafzimmer an Irmas Blumengarten gelegen, kam im Hemd, weinend, der mir gut bekannte alte Peszynski (er wohnte vor Kriegsausbruch hinter dem Gärtner Behnke). Er jammerte mir ins Gesicht: „Panie Albrecht, was werden Sie jetzt machen? Ihre Familie lebt nicht mehr.“

Ich mußte ihn beruhigen. Die Hexe schubste ihn zurück. Der Alte war ein guter Mann. Und so stand ich nach solch langer, erschöpfender, Reise in meinem Geburtshaus, aber das Haus lud mich nicht ein, es wollte mich nicht. Verlegen drehte sich der neue Besitzer um und verschwand. Auch die Kinder verzogen sich. Die Frau sabberte da etwas, aber da kam schon wieder der neue Bauer mit einem Bündel Stroh. Er warf es im Zimmer auf den Fußboden, wo der kalte Ofen stand, und sagte einladend:

„ Es ist spät. Hier können Sie schlafen. Morgen früh müssen Sie unser Haus verlassen. Zu Essen haben wir leider nichts. Wir haben hier nichts vorgefunden und sind bettelarm. Die zwei Pferde hat Ihre Mutter mitgenommen. Ob Ihre Mutter lebt, wissen wir nicht. Alle Deutschen von hier sind auf Befehl ausgerückt. Auch Stahnke, Görz und andere. Sie sollen alle bei der Überfahrt über die Weichsel (Wisla) ertrunken sein. Auch Ihre ganze Familie.“

 Er wiederholte, daß sie gerade nichts zum Essen haben. Ich wußte, ich war den Leute ganz plötzlich ein böses Geschwür auf dem Arsch geworden. Natascha hätte sich mit mir den letzten Brotbrocken geteilt, hier gab man mir nicht mal ein Glas Wasser. Aber die Leute konnten wirklich nichts haben. Mir war der Hunger vergangen. Sogar ein Stuhl war nicht da. Der neue Inhaber fügte noch hinzu:

„Als die Russen kamen, ließen die Deutschen alles stehen und liegen, um schnellstens Reißaus zu nehmen. Ihr Dienstmädchen, Julia Kos (eine Tochter aus der Nachbarschaft) hat hier erst allein gewirtschaftet. Vor den Russen ist sie dann geflüchtet. Und die haben tüchtig geplündert und alles demoliert. Nach ihrem Abzug gab uns dann die neue polnische Behörde die Wirtschaft mit allem was noch vorhanden war. Aber leider war nicht mehr viel da. Dazu die fast niedergebrannten Gebäude. Verstehen Sie mich. So ist es. Am Kriegsanfang haben die Deutschen den Polen alles weggenommen, jetzt die Polen den Deutschen. Nach Befehl der Kommunisten. Ich hab keinen Krieg gewollt. Und Sie doch auch nicht, panie Albrecht? Sie müssen mir zugeben: w dupe dostanis zawsze ten maly (in den Arsch kriegt immer der Kleine).“

Der Mann sprach recht ruhig. Ich sah, die Lage war ihm peinlich. Aber kaum war er still geworden, erschien wieder seine Frau und ergriff das Wort:

„Wir müssen melden, daß Sie hier gewesen sind. So verlangen es die Vorschriften. Und Sie waren hier nicht angemeldet, wenn Sie nicht der jüngere Albrecht sind. So müssen Sie dort hin, wo Sie zuletzt gewohnt haben. So lauten die Vorschriften. Aber wir sind keine schlechten Leute. Wenn Sie früh unser Haus verlassen, werden wir einen Tag später die Miliz benachrichtigen. Und was passieren könnte, wissen Sie bestimmt. Es wird nicht gefackelt. So wie es seinerzeit die Deutschen mit den Polen gemacht haben. Erschossen oder aufgehängt. Also dann bis Morgen früh! Es ist spät geworden.“

 Die Frau krakeelte dermaßen realistisch bildhaft, daß ich mich fast über den Haufen geschossen fühlte. In jedem Wort konnte man einen Schuß hören. Bei jedem Satz sprang sie mich an und ruckte sich wieder heftig zurück. Beim Wort aufgehängt fuhr sie sich mit der Hand um den Hals, um dann diese schnell nach oben zu werfen, wobei sie ein paar Mal ruckte, als ob sie die Schlinge so richtig zuziehen wollte. Es kam mir fast vor, daß ich schon am Galgen hänge, am Strang baumelte.

So sah das lange ersehnte Zuhause aus. Nur der kleine Hund schien sich zu freuen, Mir fehlten die Worte. Als sich dann die Gesellschaft zurückgezogen hatte, warf ich mich, so wie ich stand, aufs Stroh. Es roch nach Stalldung. Zu mir gesellte sich der kleine Hund. Ich war nicht ganz allein zu Hause! Eine gute Seele war da. In der Nacht spürte ich, daß er meine nassen Hände und das nasse Gesicht beleckte. Er wollte mir gut sein Er war kein Mensch, er war ein Hund. Nur er wollte mir helfen...

Recht früh morgens stand ich auf und schüttelte das Stroh vom Buckel. Das machte auch der Hund. Trotz der Entlausung in Posen, spürte ich wieder Läuse auf meinem Rücken. Vielleicht ist auch ein dickes Biest zur Fortpflanzung in Karben geblieben? Ich bat den verängstigten Mann um einen Spaten. Er sah aus, als wenn er vom Kasernenhof gekommen wäre. In der Nacht hat ihn bestimmt seine Frau exerzieren lassen und entsprechend gemustert. Der Mann sagte, er habe keinen Spaten, nur eine Schippe ohne Stiel. Ich hatte nämlich seinerzeit im Garten, zwischen dem Flieder, links vom veredelten Birnbaum, einige meiner Personalpapiere verbuddelt. Sie konnten mir jetzt bestimmt behilflich sein. Die Erde war schon gefroren und die Schaufel gab mir da gar keine Möglichkeit, in der Erde etwas zu finden. Für die Arbeitsdienstmütze gab mir der Mann einen schön zusammengeknickten Hut. Ein Florentiner oder Panama war es nicht.

Ohne viel zu fragen, nahm ich in der Stube ein paar Schluck Milch, die auf dem Fensterbrett stand, streichelte den Hund, der sich zu mir kuschelte, bedankte mich für die Übernachtung, sah mir draußen noch einmal mein Vaterhaus an, den Garten, die ruinierten Gebäude, den Brunnen, den historischen Birnbaum und den Steinhaufen in der Hecke am Weg, griff den Stock mit den Verzierungen, meine vielseitig verwendbare Blechbüchse und ging im Morgengrauen, hinter der Scheune, ins Ungewisse, während der Mann den Hund zurückrief. Das war der Abschied von meiner Geburtsstätte. Ohne Musik, ohne lachen und weinen.

Ja, aber wohin? Verlassen, obdachlos, in einer komischen Theaterkleidung. Ich hatte noch den zweiten Passierschein nach Löbau (Lubawa). Wie kann es dort aussehen? Werde ich da eine Bleibe finden? Aber nur nicht verzagen und weich werden! Es wird schon irgendwie werden. Ich sah mich um, schaute zurück auf mein verlorenes Zuhause. Nur nicht traurig werden! Vielleicht doch noch zu einem früheren Nachbarn gehen? Es könnten doch noch z.B. Kos, Jeznach, Milewski (Kowalski) hier wohnen.. Aber dann würde sich mein Aufenthalt in Karben noch schneller herumsprechen. Frau Stoinski würde es schon besorgen. Außerdem wußte ich nicht, wie die Verhältnisse der Albrechts mit den polnischen Nachbarn während der Kriegszeit waren. Nein, lieber weiter nach Löbau, zu der Familie, bei der ich zuletzt gewohnt habe. Aber wenn es dort auch so aussieht, wie uns das Barmädel in Goßlershausen gesagt hat? Wird dort auch jeder Wehrmachtssoldat als Feind betrachtet, gerade gut genug, um sich an ihm zu rächen, ganz gleich wie er sich während der Okkupationszeit geführt hat? Und wenn dort niemand mehr anwesend sein wird?

Hinkend ging ich über das harte Ackerland, in Richtung Broddydamm (Tama Brodzka). An den Beinen hatte ich Lederschuhe, die man mir im Lager in Posen für die russischen Holzpantoffel gegeben hatte. Aber jeder Schuh stammte von einem anderen Paar. Der eine hatte einen höheren Absatz. Da meldete sich bald auf der gefrorenen Erde mein rechtes Bein. Ein Gedankenschwarm quälte mich. Warum bin ich nicht in Posen geblieben? Man hätte mir dort bestimmt entsprechende Papiere gegeben. Hier habe ich keine. Nur den Passierschein. Hier kann man mir an den Kragen gehen und ich werde auch unschuldig den Schwanz für andere hinhalten müssen. Wie wird es in Löbau sein? Wenn man auch keinem über den Weg gerannt ist, ist man doch irgendwie gekennzeichnet und gut genug, einer Rache zum Opfer zu fallen. Das Barmädchen mußte Bescheid wissen. So ist es, wenn man eine Lage im Voraus nicht richtig kennt. Und der Herrgott kann nicht an jeden denken. Die Menschen machen Ihm sowieso genug Kummer und Verdruß. So bat ich auch um nichts.

Als ich quer über die Saaten ging, hinter Lemanns großem Obstgarten auf die Chaussee Strasburg/Broddydamm kam, näherte sich mir aus dem Frühnebel ein Bekannter. Es war Konrad Kant, ein Schulkollege. Er blieb vor mir stehen, wurde stutzig, lächelte und rief:

„Mensch, Gerard, bist Du das wirklich? Man sagte, Du bist an der Ostfront gefallen. Aber wie siehst Du aus? Schwarz, in einer Tracht, wie eine Vogelscheuche auf dem Feld.“ Dann wiederholte er fast alles, was ich schon in Goßlershausen am Graupentopf gehört hatte.

„Hast Du hier wirklich keinen mehr, keinen Bekannten, der es vorübergehend wagen würde, Dir ein Schlupfloch zu geben? Es ist schlimm, aber so langsam wird es sich ändern. Die Russen werden abziehen, Die Behörden, alles neue Leute, werden erfahren, dass die Pommereller nicht alle Vaterlandsverräter waren, auch wenn sie bei der Wehrmacht waren. Der Krieg ist erst ein halbes Jahr aus. Viele wollen sich rächen, da man ihnen zu viel Leid und Unrecht angetan hat. Wenn die Übeltäter nicht zu finden sind, paßt auch jeder andere an die Telefonstange, wenn er einer Nation angehört, die hier tüchtig gesündigt hat. Du hast es ja selbst gesehen. Auch haben die mehr verständnisvollen Leute vor der NKWD und UB Angst und wollen mit niemandem etwas zu tun haben, hauptsächlich nicht mit solchen deutschen Wehrmachtssoldaten wie Dir, mein Lieber. Du mußt Dir dringend einen anderen Lumpen auf den Buckel besorgen. In Deinem Prophetenmantel kommst Du hier nicht weit. Das ist doch kein deutscher Mantel. Wo hast Du diese Tracht her? Leider kann ich Dir nicht helfen. Was die Deutschen nicht genommen haben, nahmen jetzt die Russen. Hauptsächlich Uhren. Weißt Du von Deiner Familie nichts? Von Deinem Bruder, dem man so Verschiedenes nachsagt? Ich habe nichts gegen Euch, glaub´s mir! Aber hau ab, denn bald können neugierige Leute kommen. Übrigens, wo willst Du hin?“ Ich deutete auf den Wald und haute ab.

Rechts ließ ich Schließkes See liegen und war bald in einer Gegend, wo ich etwas Deckung finden konnte. Auch wollte ich  sehen, ob noch etwas Genießbares greifbar ist. Ich hatte Hunger. Aber fast alles war schon verwelkt. Da gab´s nichts mehr für den Magen. Wenn mir der Teufel auch zuflüsterte: "Mach Schluß mit allem“, suchte ich keinen passenden Ast. Übrigens waren rundherum nur Sträucher und hohe Kiefern. Auch mein Gürtel war dazu nicht geeignet. Er bestand aus einem Kochgeschirrriemen, verlängert mit einer gewöhnlichen Schnur. Ich griff in die Tasche und sah den aktuell gewordenen Passierschein noch einmal genau an. Den hatte ich gut ausgefüllt. Das Foto der Familie Bohnacker steckte ich tiefer in die Brusttasche. Werden die Beiden mir noch einmal helfen? Ich war fast abergläubisch geworden.

Langsam und lahm näherte ich mich auf den nicht passenden Schuhabsätzen der kleinen Bahnstation Broddydamm, 5 km von Strasburg entfernt, romantisch in Gutsbesitzer Lehmanns Wald gelegen. Rechts davon befanden sich unsere Wiesen, wo wir mit Jeff öfters Heu geerntet haben. Es war einmal. Alles war einmal. Nur eine beklemmende Ungewissheit ist geblieben.

Mut (Gerhard Albrecht)

 

 

Karben (Karbowo) 2005: Verfallendes Gutshaus

 


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