Anfang
September 1945 verteilte die polnische Verwaltung Formulare, in die die Namen, Adressen und Geburtsorte aller Bewohner
der einzelnen Häuser eingetragen werden mussten. Unsere jüngste,inzwischen fünfmonatige Schwester, wurde von einem nicht ortsansässigen Pfarrer auf den Namen Erika getauft.
Einen örtlichen Pfarrer gab es in Gnewin schon lange nicht mehr. Ende September erhielten unser Opa und unsere Mutter ein Schreiben der polnischen
Behörde.
Sie
wurden aufgefordert, binnen zwei Tagen mit den Kindern am Ortsausgang
zu erscheinen, um in die "Heimat" abtransportiert
zu werden. Man durfte nur so viel mitnehmen, wie man tragen
konnte. Für unsere kleine Erika trieben Hermann und Tante Grete im
Dorf einen Kinderwagen auf. Anfang Oktober sammelten sich alle
betroffenen Leute zum Abtransport am Ortsausgang. Auch Tante Marie aus
Druschin, die bei Verwandten in Gnewin untergekommen war, fand sich mit ihren Kindern ein.
Die Fahrt sollte zunächst zum etwa
25 Kilometer entfernten Bahnhof in Lauenburg gehen. Für den
Transport standen mehrere Pferdefuhrwerke bereit, auf die die mit
Namen versehenen Gepäckstücke geladen wurden. Die Polen erlaubten
aber niemandem, die Wagen zu besteigen. Die Deutschen, egal ob alt
oder jung, sollten zu Fuß gehen. Die Menschen protestierten, denn sie
verstanden nicht, dass auch Kinder
und alte Leute neben dem Wagen herlaufen sollten. Die Polen
blieben jedoch stur und ließen nur zu, dass Kinder bis zu vier Jahren
auf die Wagen gehoben wurden. Aus allen Ortschaften der Umgebung
wurden deutsche Frauen, Kinder und alte Männer nach
Lauenburg gebracht.
Erst am späten
Nachmittag kamen wir in Lauenburg an. Zum ersten Mal sah ich hier
zerstörte und ausgebrannte Häuser. Die Wagen fuhren zum Güterbahnhof,
wo ein langer Güterzug für unseren Transport in die "Heimat"
bereitstand. Nachdem die Gepäckstücke abgeladen waren, sollten sich
alle mit ihrer Habe in die Waggons begeben.
Die Bodenflächen waren mit etwas Stroh bestreut. Alle rätselten und
fragten, wohin wir transportiert werden sollten. Die Polen
sagten immer nur: "In die Heimat." Einige der Polen liefen mit
Gewehren an den Güterwagen entlang und kontrollierten wohl, ob alle
eingestiegen waren. Dann setzte sich der Zug in Bewegung und verließ
Lauenburg.
In
den Güterwagen hockten die Leute auf ihren Habseligkeiten und redeten
alle durcheinander. Kleinkinder weinten und alte Frauen und Männer
stöhnten oder jammerten. Unser Opa und ein anderer Mann hatten die
Schiebetür ein wenig zurückgeschoben, um durch den Spalt nach draußen
sehen zu können. Da wir in der Mitte des Wagens saßen, konnte auch
ich die Landschaft vorbeiziehen sehen. Ich sah verbrannte Gebäude, Häuser
mit schwarz verkohlten Dachbalken
und zerstörte Fahrzeuge. Unser Zug fuhr durch einsame, teils
größere, teils kleinere Bahnhöfe. Draußen schien alles wie ausgestorben
und verlassen. Anhand der Beschriftung der Bahnhöfe konnte
Opa feststellen, dass unser Transport nach Westen ging. Gegen
Abend blieb unser Zug mit einem Mal stehen, aber ein Ort oder ein
Bahnhof waren nicht zu sehen. Als die Lokomotive abgekoppelt wurde
und ohne uns weiterfuhr, rätselten wir alle, was das wohl zu bedeuten
hatte. Auf freier Strecke waren wir einfach abgehängt worden. Nach
einigen Minuten fuhr unsere Lokomotive auf dem Nebengleis an uns
vorbei und verschwand in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Draußen dämmerte es bereits, es wurde langsam dunkel.
Wenig
später kamen, wie aus dem Nichts, Polen in unseren Wagen und
verlangten Uhren und Schmuck. Auch die Eheringe sollten abgegeben
werden. Mit Gewalt versuchten die polnischen Frauen und Männer, den
Leuten die Ringe von den Fingern zu ziehen und die Armbanduhren
wegzunehmen. Unsere Mutter versteckte ihre goldene
Armbanduhr und Opas Taschenuhr unten im Kinderwagen. Ein wildes
Gerangel entstand, Frauen schrieen, Kinder weinten, polnische Laute,
Gejammer und Flüche waren zu hören. Das Geschrei
im Waggon war sehr laut. Ein Pole knallte mit seinem Gewehr
und schoss Löcher in die Decke des Wagens. Mit ihrer Beute sprangen
die Polen aus dem Wagen und andere stiegen ein. Die einen
leuchteten mit ihren Taschenlampen die Leute an und andere rissen
ihnen mit Gewalt die Kleider vom Leibe und nahmen ihnen Mäntel
und Jacken weg. Plötzlich erschienen russische Soldaten und
vertrieben die Polen. Eine Lokomotive setzte sich vor den Zug und
koppelte an. Zu sehen war nichts, denn überall war es stockdunkel.
Unser Zug rollte in die Nacht.
Das
Gejammer im Innern unseres Wagens verstummte langsam, viele waren eingeschlafen. Als der Morgen graute, wurden sie
wieder
munter und schimpften über die Polen oder klagten. Zu sehen
war im Wagen nichts, weil es noch zu dunkel war und die Russen die
Schiebetüre von außen verriegelt hatten. Der Zug wurde langsamer.
Holprige Weichen waren zu spüren und die Schienen quietschten.
Vermutlich fuhren wir in einen großen Bahnhof ein. Dann blieb der Zug stehen. Man hörte draußen viele deutsche
Stimmen.
Die Wagentüren wurden von außen entriegelt und aufgeschoben. Wir
waren in einem großen Bahnhof, wir waren in Berlin.